Aus der Geschäftsstelle
Von den leisen Seiten eines Wohnbaus
In der letzten Ausgabe wurde das Thema «Lärm» allgemein beleuchtet, in dieser Ausgabe liegt der Fokus auf einem Interview mit einer Expertin.
Das Steckenpferd der Akustikerin Stéphanie Conrad ist das «optimierte Beplanen von Gebieten mitten im Lärm». Denn: Auch an lauten Orten kann ruhig gewohnt werden.
Sie als Fachfrau – welche Art von Lärm nervt Sie?
Stéphanie Conrad: Platz 1: jener von Autoposern, also der Lärm, der von übermässig frisierten Fahrzeugen ausgeht. Platz 2: technische Geräusche wie tiefes Brummen oder hohes Surren. Platz 3: unpassende Geräusche. Während des Kochens stört mich der laufende Küchenabzug nicht, beim Essen aber sehr wohl.
Warum gerade die Autoposer auf Rang 1?
Autoposer haben eine extreme Störwirkung. Du wachst wegen ihnen bei geschlossenen Fenstern auf und im Restaurant ist kaum mehr eine Unterhaltung möglich, wenn sie ihre Runden drehen. Zudem hat dieser Lärm keine Funktion, die Fahrzeuge sind unnötig laut. Weiter stört eine Einzelperson über grosse Distanzen hinweg sehr viele Personen.
Wie schützen Sie sich persönlich vor Lärm?
Bewusst an ruhigen Orten. Ich mag keine Dauerbeschallung via Radio oder Fernseher. Ich beschränke mich auf eine Lärm- oder Geräuschquelle. Ich brauche Phasen der Ruhe, denn je mehr Ruhe ich tanken kann, desto mehr Lärm ertrage ich.
Kann man Lärm als angenehm empfinden oder ist er immer störend und ärgerlich?
In der deutschen Sprache wird unterschieden zwischen Lärm, Geräusch und Klang. Menschliche Geräusche sind sehr subjektiv. Der Autoposer liebt den Motorenlärm, ich höre gerne Heavy Metal, andere mögen den Klang der klassischen Musik. Ich mag zum Beispiel das «Badi-Geräusch» gerne. Was niemand mag, ist die absolute Stille. Der vollständige Reizentzug ist eine Foltermethode.
Welcher Lärm stört Mieterinnen und Mieter generell mehr: jener innerhalb des Hauses bzw. der Wohnung oder jener extern?
Lärm von aussen, zum Beispiel Strassenlärm, lässt die Leute eher wegziehen. Bei einer Hauptstrasse ist es schwierig, etwas zu machen, auch wenn Grenzwerte überschritten werden. Alle Lärmklagen brauchen sehr viel Zeit und Nerven. Im Übrigen kann Lärm auch unter den Grenzwerten störend wirken. Innerhalb eines Gebäudes hat der Vermieter eine Verantwortung und Mieterinnen und Mieter müssen sich an Regeln halten.
«Wer in einer Stadt wohnt, muss Lärm hinnehmen, ansonsten soll er oder sie besser aufs Land ziehen.» Lassen Sie diese oft gehörte Aussage gelten?
Nein, so funktioniert das nicht. Auf dem Land ist es «anders laut». Traktoren fahren am frühen Morgen oder am Sonntag vorbei. Dann sind da die Gartengeräusche samt Rasenmähern, Laubbläsern und Motorsägen, bellende Hunde vom Nachbarn und Kirchenglocken, die auf dem Land oft jede Viertelstunde läuten.
Haben Sie Tipps für jene, die eine neue und möglichst ruhige Wohnung suchen?
Den potenziellen Wohnort sehr genau anschauen. Mir überlegen, welche Art von Lärm und Geräuschen mich am meisten stört. Die eigene Kompromissfähigkeit und Toleranzschwelle erkennen.
Rücksicht und Toleranz
Auch in den Siedlungen und Wohnungen der abl tönts. Unser Team der kaufmännischen Bewirtschaftung erhält entsprechend ab und an Meldungen zu den zu gut gehörten Nachbarn. Nicht immer kann darauf wie gewünscht eingegangen oder eine befriedigende Lösung gefunden werden. Wir appellieren denn auch: Eine gute Nachbarschaft wird getragen von einer ausgewogenen Mischung aus Rücksicht und Toleranz.
Angenommen, mitten in der Stadt wird eine neue Siedlung geplant. Auf was sollten die Verantwortlichen vor allem achten?
In erster Linie das Potenzial ausloten und dann vollständig ausnutzen. Dabei unter anderem die Lage und die Himmelsrichtungen beachten: Wo führen Hauptstrassen durch, wo hat es andere Lärmquellen? Wie sehen die Tag- und Nachtnutzungen der Wohneinheiten aus? Wenn zum Beispiel ein Balkon gegen Süden, aber auf den geräuschvollen Bahnhofplatz gerichtet ist, kann das durchaus aufgehen: Der Balkon ist besonnt und die Mieter und Mieterinnen haben die Möglichkeit, das bunte Treiben zu beobachten. In der Nacht werden Balkon und Bahnhofplatz viel weniger genutzt und es ist ruhiger. Optimal ist, wenn jede Wohnung mindestens einen ruhigen Rückzugsort hat, folglich sollten Schlafzimmer nicht auf die Strassenseite hin geplant werden. Die «leise Seite» eines Gebäudes sollte dann auch tatsächlich ruhig gehalten werden. Weder eine Tiefgarageneinfahrt noch eine Anlieferung oder eine Wärmepumpe gehören hierhin. Die Bauherrschaft berücksichtigt im besten Fall sämtliche potenziellen Störwirkungen von Lärm und nicht nur die Grenzwerte. Übrigens sollte die «leise Seite» auch gut klingen, denn leise allein macht nicht glücklich. Das nennt sich Klangraumgestaltung, zum Beispiel von Innenhöfen. Begrünt, vielleicht mit Wasserflächen und Vogelhäuschen, wo Mensch und Tier sich trotz oder gerade wegen den angenehmen Geräuschen wohlfühlen.
Mit welchen baulichen Massnahmen kann als unangenehm empfundener Lärm verhindert oder mindestens reduziert werden?
Im Aussenraum sind Massnahmen beschränkt und mässig wirksam: zum Beispiel lärmarme Beläge, Geschwindigkeitsreduktionen, Lärmschutzwände. Die beste Wirkung haben Bauten, die als Lärmriegel gestaltet sind und so eine wirklich leise, vollständig lärmabgewandte Fassade haben. Um den Lärm innerhalb eines Gebäudes zu reduzieren, braucht es gute Fenster, genügend dicke Mauern, Schalldämmung zwischen den Nutzungseinheiten sowie akustische Entkoppelungen gegen den Trittschall.
Wie unterscheiden sich Neubauten in der Stadt von solchen auf dem Land?
Auf dem Land hat es mehr Platz und Potenzial und lärmabgewandte Seiten sind häufiger auszumachen. In der Stadt hat es meist von überall her ein bisschen Lärm. Auf dem Land wird mehr Qualität gefordert, denn die Leute erwarten, dass es auf dem Land ruhig ist. Stimmt die Qualität nicht, führt das zu häufigeren Mieterwechseln, denn man ist weniger standortgebunden. Das ist in einer Stadt wie zum Beispiel Zürich anders. Dort kann jeder Schopf vermietet werden, auch wenn es da laut und teuer ist. Ausschlaggebend ist da die Wohnungsknappheit.
Wie sieht das bei Sanierungen von Altbauten aus, was ist da machbar in Sachen Lärmschutz?
Der Spielraum ist eingeschränkt, denn der Fussabdruck des Gebäudes ist gegeben. Dort, wo es möglich ist, kann zum Beispiel der Grundriss der Wohnungen umgestaltet werden, so dass jede Wohnung eine «leise Seite» hat. Ausserdem sind gute Fenster am richtigen Ort und eventuell eine Dachsanierung wirkungsvolle Lärmschutzmassnahmen. In Altbauten ist der Trittschall häufig ein Problem, das kann mit Dämmung und akustischer Entkoppelung gelöst werden.
Sind die gesetzlichen Vorschriften in der Schweiz – was den Lärmschutz der Bevölkerung betrifft – ausreichend?
Nein, im Gegenteil. Das Parlament beschloss kürzlich eine sehr massive Lockerung der Lärmschutzvorschriften beim Bauen in lärmbelasteten Gebieten. Der Technikglauben aus den 1970er-Jahren ist wieder zurück. Neu soll es keine ruhigen Fenster zum Lüften mehr brauchen, da man stattdessen kontrollierte Lüftungen einbauen könne. Anstatt auf den Verkehrslärm zu reagieren, werden Mieter quasi eingesperrt und der Bezug zum Aussenraum geht verloren. Untersuchungen zeigen ausserdem, dass bei uns die aktuell geltenden Grenzwerte zu hoch angesetzt sind und keinen angemessenen Lärmschutz erlauben. Folglich machen sogar eingehaltene Grenzwerte niemanden glücklich.
Was wünschen Sie sich punkto effektiven Lärmschutzes?
Wo das Potenzial vorhanden ist, es unbedingt vollständig ausnutzen – ungeachtet der Grenzwerte. Ruhe und Grenzwerte liegen sehr weit auseinander. Die Störwirkung des Lärms abhängig von der Tageszeit und der Nutzung der Räume berücksichtigen. Eine gute Interessenabwägung bezüglich der Qualitäten im Lärm machen, sich zum Beispiel fragen, ob eine gute Besonnung den Lärm zu kompensieren vermag oder ob menschliche Geräusche die akustische Gesamtsituation verbessern. Sehr wichtig finde ich, mit Kompensationen zu arbeiten, zum Beispiel ein Haus zu bauen, das eine «laute Seite», dafür aber auch ganz leise Räume hat. Dadurch kann man Ruhe tanken und die Toleranz bezüglich Lärm steigt.
Zur Person
Stéphanie Conrad hat einen Master in Geografie und ist diplomierte Akustikerin. Mit «Conrad Akustik» arbeitet sie als Selbstständige im Kanton Solothurn. Conrad hat sich auf Lärmschutz spezialisiert, unter anderem weil sie privat sensibilisiert worden ist: Sie wohnte an einer Hauptstrasse – die Grenzwerte waren notabene eingehalten –, aber es gab keinen ruhigen Raum in ihrer Wohnung und auch der Aussenraum war Tag und Nacht lärmig: «Ich musste ausziehen, weil ich nicht mehr schlafen konnte.»
Mieterschaftsbefragung 2023
2023 führte die abl eine Mieterschaftsbefragung zur allgemeinen Wohnzufriedenheit durch. Rund ein Drittel der Befragten hat der abl ein gutes Zeugnis ausgestellt. Zusätzlich zu den einzelnen Fragen sind mehrere hundert individuelle Rückmeldungen in Form von Anregungen und Wünschen eingegangen. Diese Themen greifen wir an dieser Stelle regelmässig auf. Weitere Infos finden Sie unter abl.ch/befragung.