Aus der Nachbarschaft
Das Einhauchen der Seele
Im August zog das «HelloWelcome» an die Bundesstrasse. Hier kommen Geflüchtete, Migrant/-innen und Einheimische zusammen. Für das abl-magazin erzählt Schriftsteller Hamed Abboud in einem poetischen Grusswort, welche Bedeutung der Treffpunkt für ihn hat.
Was lässt ein Gedicht lebendig werden, so dass es sich von den vielen anderen angehäuften und staubbedeckten Textleichen unterscheidet? Das Geheimnis liegt sicher darin, dass der Dichter dem Gedicht nach Beendigung des Schreibens eine Seele einhaucht. Manchmal entfährt der Seelenhauch der Brust nach einer tiefen Verzweiflung oder aber er bricht aus stürmischer Freude hervor und füllt die Leere mit der Hoffnung, dass das Endprodukt der eigenen Erwartung entspricht.
Ein einziger Seelenhauch aus den Tiefen des seelischen Reservoirs des Menschen in das leere Reservoir des Gedichts ... Dieser Hauch vermengt die in der Luft schwebenden Moleküle mit der Tinte auf dem Papier oder verursacht eine leichte Erschütterung der Buchstaben, die sich dicht an dicht auf dem Computermonitor drängen. Dadurch weisst du, dass das Geschriebene lebt und leben wird, so lange, bis sich das Gedicht entschliesst, seine Seele zu opfern und sie einem Leser ins Gesicht zu hauchen, den es selbst ausgewählt hat. So vervollständigt sich sein Lebenskreislauf, und die Seele wandert von einer Existenz in eine andere, so dass jeder neuer Empfänger sie seinerseits in ein anderes Werk einhaucht. Sollte das nicht möglich sein, wäre der Glanz des Lebens nicht Teil des Wörterbuches dieser Welt.
Dank dieser übergrossen dichterischen Gabe tragen auch manche Unternehmungen einen Teil der Seele ihrer Erschaffer in sich. Schliesst man nur für einen kurzen Moment die Augen, kann man spüren, wie sie in den Ecken und Winkeln eines Raumes erscheint und von einer Ecke in die nächste tänzelt, so dass jeder eine solche Vertrautheit und tiefe Ruhe an dem Ort empfindet, als läge er im Schoss der Mutter oder als spürte er, wie die Hand des Vaters ihn stützte und schützte, ohne dass einer von beiden anwesend wäre.
Mit der gleichen dichterischen Gabe erinnere ich mich, wie ich eines Tages an der abgetretenen Betonschwelle des «HelloWelcome» in der Stadt Luzern stand, um schliesslich hineinzuschlüpfen und die Gründung dieses Zentrums mit einer Lyriklesung zu eröffnen. Dieser grosse Raum sollte der geeignete Ort für den Ausgangspunkt meiner Präsenz als Literat in der Schweiz sein, die bis zu diesem Augenblick von Erfolg gekrönt ist und hoffentlich, vielleicht länger oder kürzer, noch weiter andauern wird.
Bei den Angeboten geht es um ein Miteinander von Geflüchteten und Einheimischen.
Es war der Winter 2016, kurz nach der Ankunft der «Flüchtlingswelle», wie sie von vielen genannt wurde, obwohl die Körper der Geflüchteten infolge der seelischen Erschöpfung eher vertrocknet waren. Nichts wurde nass bei ihrer Ankunft ausser den Stirnen der Ankömmlinge, auf denen sich aus Angst vor dem Kommenden in jenem Land kalte Schweissperlen bildeten. Vielleicht implizierte die Zuhilfenahme der Wellenmetapher die Hoffnung, dass sich diese Welle, genau wie jede andere Welle auch, wieder in Richtung Meer zurückziehen werde, aus dem sie gekommen war.
Aber es handelte sich nicht um eine Wasserwelle, sondern um eine Welle aus gelb gewordenen Blättern, die der Wind in der Ferne von ihren Ästen geweht hatte. Nun kamen sie aus verschiedenen Richtungen angeflogen, um sich für eine bestimmte Zeit dort, wo sie gelandet waren, niederzulassen, bevor ein Windhauch sie wieder an einen anderen Ort blasen würde.
Renate Metzger, eine der Gründerinnen des Zentrums, kannte ich damals nicht besonders gut, genauso wenig wie ich ihre Partnerinnen Luisa und Marga kannte. Ich wusste aber, dass Renate Schriftstellerin war wie ich und neben ihrer vielfältigen Arbeit als Journalistin zahlreiche soziale Projekte ins Leben rief. Und weil ich sie nicht gut kannte, konnte ich nur schwer einschätzen, wie sie sich nach der Gründung dieses Projekts, das nach seiner Eröffnung zahlreiche Geflüchtete verschiedenster Nationen und Alter begrüssen sollte, fühlte. Ich wusste auch nicht, ob Renate ihren Partnerinnen eines der ewigen Geheimnisse in Bezug auf Schaffensprozesse preisgegeben hatte oder ob sie ihre beiden Freundinnen in die Tricks des Entstehens lebendiger Geschichten eingeweiht und sie angewiesen hatte, neben ihr vor der abgetretenen Schwelle zu stehen, um aus tiefster Brust einen Hauch mit den Molekülen ihrer drei Seelen auszupusten, so dass der Ort mit jener Vitalität überflutet würde, die jeder Besucher dieses weitläufigen Raums später so nötig haben würde.
«Die Flüchtlinge haben alles zurückgelassen, doch ihre Talente haben sie mitgebracht», im HelloWelcome finden sie einen Ort, um ihnen Ausdruck zu verleihen.
Es bereitet mir ein grosses Glücksgefühl, mir dieses wunderschöne Bild vom Prozess der Erschaffung dieses Zentrums vorzustellen. Ich führe mir dieses vertraute Bild gern vor Augen, auch weil ich davon überzeugt bin, dass dieses Zentrum mit seinen verstreut im Raum stehenden Tischen einem Schoss gleicht, der viele Sorgenvolle aufnimmt und an sie glaubt. Man spürt das ganz deutlich, wenn man den Raum betritt, und wenn nicht, dann flüstert einem das mosaikartige Gemälde an einer der Wände sogleich nach dem Eintreten zu: «Die Flüchtlinge haben alles zurückgelassen, doch ihre Talente haben sie mitgebracht.»
Vielleicht war es kein reiner Zufall, dass die Seele, die ausgehaucht wurde und die Vereinigung der Schweiz erleichterte und nach der Zusammenkunft dreier Männer auf der Rütliwiese zu einem Übereinkommen der Kantone führte, genau das gleiche tänzelnde Einhauchen der Seele war, die von einer Zeit in eine andere wanderte, um am Ende die Zusammenkunft dreier Frauen zu ermöglichen, die die Schweiz zu einem besseren Ort werden lassen, indem sie einen Raum schufen, der alle aus der Ferne heranwehenden gelben Blätter aufnimmt, damit sie dort auf die eine oder andere Weise eine Heimat finden.
Zumindest ist es das, was ich glauben möchte, während ich versuche, dieser Geschichte genügend Moleküle meiner eigenen poetischen Seele einzuhauchen, um diesen neuen Ort, an den das Zentrum nun umgezogen ist, zu feiern. Zurücklassen wird er genügend lebendige Erinnerungen, die, wenn sie von Ort zu Ort fliegen, nicht verschwinden werden, solange das Seelenreservoir noch voll genug ist, um alles mit Liebe und Respekt zu überfluten.
Der Treffpunkt HelloWelcome
Das HelloWelcome ist ein Treffpunkt für Geflüchtete und Einheimische. Ein Ort, an dem gelebt und gefeiert, gelacht und gelernt wird. Trägerschaft ist ein Verein, das Betriebsteam besteht aus zwei Schweizerinnen, einem Afghanen und einem Syrer. Das Rückgrat bilden ganz viele Freiwillige, die mit Geflüchteten Deutsch lernen, Formulare ausfüllen, Bewerbungen schreiben, singen, tanzen, malen, gestalten und vieles andere mehr. HelloWelcome orientiert sich an den Talenten und den Bedürfnissen von Geflüchteten – und bietet ihnen eine Art neues Zuhause, bis sie in der Schweiz heimisch geworden sind. Wichtig sind nicht nur die Treffs und Veranstaltungen im Lokal an der Bundesstrasse, wichtig sind vor allem auch die kulturellen und sportlichen Projekte, bei denen es um das Miteinander von Geflüchteten und Einheimischen geht. Um Kontakt. Und darum, dass über alle Unterschiedehinweg Beziehungen und Freundschaften entstehen können. HelloWelcome, Bundesstrasse 13, 6003 Luzern, hellowelcome.ch. zvg
Zum Autor
Hamed Abboud, 1987 in Deir Ez-Zor, Syrien geboren, flüchtete Ende 2012 aus seiner Heimat. Nach Zwischenstationen in Ägypten, Dubai und der Türkei kam er Ende 2014 in Österreich an. 2012 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband «Der Regen der ersten Wolke». Im Jahr 2015 erhielt er das Jean-Jacques-Rousseau-Stipendium der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart. 2017 folgte sein zweites Werk «Der Tod backt einen Geburtstagskuchen» und 2020 der Prosaband «In meinem Bart versteckte Geschichten». ks, Foto Nina Oberleitner